Das traditionelle Pfarrhaus fällt meist sofort ins Auge: nahe bei der Kirche gelegen und nicht selten von einer gewissen Großzügigkeit, auf dem Lande mit Wirtschaftsgebäude und weitläufigem Pfarrgarten. Denn bis ins 19. Jahrhundert lebt es in hohem Maß von Naturalabgaben der Gemeinde und aus eigener Gartenarbeit. Amtsräume und Wohnstatt liegen unter einem Dach, Gastfreundschaft wird großgeschrieben, eine Privatsphäre ist schon im Haus schwer aufrechtzuerhalten. Die Pfarrfamilie steht im Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Von Familienleben und Hauswirtschaft wird Mustergültigkeit erwartet.
Die Rollenverteilung der Geschlechter hat im Pfarrhaus bis weit über die Nachkriegszeit hinaus fortbestanden – bis das Pfarramt auch zum Frauenberuf wurde. Eine übermächtige Vaterfigur, eine Mutter mit wenig eigenen Freiräumen, prägen daher die Erinnerung vieler Pfarrerskinder: streng, fürsorglich und anspruchsvoll, was persönliche Bescheidenheit, Bildung und wohlgesetzte Rede in der Wort-Kultur des Protestantismus angeht. Die Erziehung der Kinder ist ein beständiger Modellversuch unter erschwerten Bedingungen, weil die Eltern im Dienste einer höheren Instanz stehen: Erziehende und Erzogene müssen sich nicht nur vor der Gemeinde, sondern auch vor Gott bewähren.
Das Pfarrhaus soll in seiner idealen Form eine Ahnung des „himmlischen Friedens“ vermitteln, erfüllt von Wohllaut, geleitet von einem umfangreichen Werte- und Tugendkatalog. Aber „Einfriedung“ und Harmoniesucht sehen sich von der der Außenwelt, der Politik , veränderten gesellschaftlichen Normen oder auch nur der eigenen Gemeinde herausgefordert. Und nicht zuletzt von Selbstbehauptungswillen und Ausbruchssehnsucht der heranwachsenden Pfarrerskinder. Ihr Verhältnis zu diesem sehr besonderen Elternhaus im weiteren Lebensweg schwankt zwischen Stolz auf ein Privileg, Dankbarkeit und völliger Entfremdung.
Das Pfarrhaus sollte dazu beitragen, Staat und Gesellschaft besser zu machen. So hatten es sich die Reformatoren vorgestellt. Die eigene Bildung sollte der Gemeinde zugutekommen, mit dieser verband das Pfarrhaus die Hilfe für Arme, Kranke und Gestrauchelte weit über die Seelsorge hinaus. Politik hingegen blieb lange außen vor –erst die Ablehnung der Demokratie nach 1918 und die Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben das Pfarrhaus politisiert. Als Schutzraum, Freiraum, Ort der Sensibilisierung für Konflikte und soziale Herausforderungen erfand und erfindet es sich immer wieder neu – bis heute.
Der Blick auf das Pfarrhaus hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Neue Konstellationen traten und treten neben die die herkömmliche von Pastor, Pfarrfrau und einer mehr oder weniger großen Kinderschar: gleichermaßen berufstätige Ehepartner, Pastorinnen mit Ehegatten in nichtgeistlichem Erwerb und gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Konservative kirchliche Kreise sehen hier nicht nur alternative Lebensmodelle sondern fast schon neue Leitbilder entstehen. Aber auch das Verständnis vom Pfarrberuf hat sich verändert: aus Seelsorgern und Verkündigern des Glaubens werden allzu leicht Sozialdienstleister im Talar. Für die Pfarrerskinder, sofern vorhanden, bedeutet dies allerdings auch Befreiung von alten Bürden einer rund um die Uhr eingeforderten Vorbildlichkeit.